UteGlaser                                                                                                                                                E-Mail                    
Journalistin

 

14. Februar 2002

Koelner Stadt-Anzeiger online - www.ksta.de

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Das Leiden ist unvergessen

Texte über die Deportation deutscher Frauen nach Russland lösten bei Gladbacherinnen erschütternde Erinnerungen aus. Sie erzählten von eigenen Leiden und Erlebnissen.

Bergisch Gladbach - Sie war 15, als die Russen in ihr masurisches Dorf kamen und ihr Leben auseinander rissen. „Sie schlugen auf meine Mutter ein.“ Die Frau, die sich erinnert, ist jetzt 72 Jahre alt und wohnt in Bergisch Gladbach. „Kind erbarme dich“, habe ihre Großmutter gebeten.

Damals, im Januar 1945, ließen sie die Mutter tatsächlich los, ließen sie bei der zweijährigen Schwester, dem Säugling und der Oma zurück. Nur die junge Deutsche nahmen sie mit. Eine von schätzungsweise 350 000 Frauen und Mädchen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Russland deportiert wurden.

Mucksmäuschenstill ist es im Raum, als die Bergisch Gladbacherin von der Zeit im Lager Insterburg erzählt, die Deportation nach Sibirien und die anderthalb Leidensjahre schildert.

Die Zuhörer waren an zwei Abenden zu einer Lesung in die Evangelische Begegnungsstätte an der August-Kierspel-Straße gekommen, um Ausschnitte aus dem Buch „Verschleppt ans Ende der Welt“ zu hören. Freya Klier beschreibt darin Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern, gespickt mit Berichten von Augenzeuginnen.

Aber noch viel bewegender war das, was die Anwesenden von ihren eigenen Lebensgeschichten preisgaben. Auch Barbara Brall, die die Veranstaltung initiiert hatte und aus dem Buch der Freya Klier las, war bei Kriegsende 15 Jahre alt. Im Januar 45 war sie im schlesischen Hirschberg zum Flüchtlingsdienst eingeteilt worden. Noch heute hat sie die Schneemassen des kalten Winters vor Augen. Einmal habe sie bis zu den Hüften im Schnee gestanden, als sie einen Kinderwagen aus dem Zug habe heben wollen. Oder da war der alte Mann, der durch die zum Schlaflager umfunktionierte Schule irrte und irgendetwas suchte. „Mit Pantöffelchen und Strickjäckchen. Ich sehe ihn noch vor mir.“

Warum sie zu den beiden Lesungs-Abenden eingeladen hat? Es sei ihr wichtig, Gewalt gegen Frauen anzuprangern, sagt Barbara Brall. Mit 72 Jahren arbeitet sie immer noch im Ausschuss für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche im Rheinland mit. Lange war sie zuvor in der Landessynode aktiv, jeweils 16 Jahre auch im Kreissynodalvorstand und im Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Bergisch Gladbach. Auf das Buch von Freya Klier habe ihre Schwester sie aufmerksam gemacht, mit sie im letzten Zug aus Schlesien flüchten konnte. Der Kommentar der Schwester zum Buch: „Was ist uns erspart geblieben.“

In der Tat: Die Vergewaltigungen, Folterungen, Arbeitsbedingungen und Todesfälle zwischen den Buchdeckeln lassen Leser schaudern. „Ich möchte die Russen nicht verdammen, dazu habe ich die Russen viel zu gerne“, stellt Barbara Brall klar. „Aber es ist ein Verbrechen gegen die Menschheit gewesen - auf deutscher und auf russischer Seite.“ Und das dürfe nicht weiter totgeschwiegen werden. Denn tragischerweise seien die Deportierten zweimal Opfer geworden: Das erste Mal in Russland, wo sie ausgebeutet und drangsaliert wurden, das zweite Mal in ihrer Heimat, wo ihre Opfer und Leiden nach der Rückkehr fast keine Beachtung fanden.

Ganz schlimm sei, dass manche Frauen sich obendrein noch ein „Hättest du dich richtig gewehrt, wäre das nicht passiert“ anhören mussten. „Da kam zum Erlittenen noch Schuld und Schamgefühl.“ Und psychologische Betreuung gab es ohnehin nicht.

Freya Kliers Buch berichtet vom „Hakenkreuzzug“, der über den Osten hereinbrach, von Menschen, die sich von Tischlerleim und gekochtem Leder ernährten, und von vielen Einzelschicksalen. Zum Beispiel von dem 15-jährigen Mädchen aus dem Memelgebiet, das mit „Frau komm“ von den Russen einkassiert wurde und nur noch einen Wunsch hatte: „Nur keine Schläge, keine Quälereien mehr.“ Viele Frauen starben. Junge und alte.

Dann 18 Tage Bahntransport: „Sitzen war gar nicht möglich, nur Stehen“, erinnert sie sich an die Fahrt im Viehwaggon nach Sibirien. „Aber zwischendurch wurde es luftiger, weil viele starben und rausgeschmissen wurden.“ Als die Überlebenden am Ziel ankamen, versanken sie bis zu den Oberschenkeln im Matsch, quetschten sich in vier oder fünf Baracken. „Wir mussten uns einer am anderen festhalten, damit wir nicht umfielen.“ Das Mädchen musste wie alle anderen splitternackt vor ein paar Russen defilieren. „Die haben uns sortiert. Ich bin in die Gruppe zwei gekommen. Die Gruppe drei war sozusagen halbtot.“ Die Frauen wurden als Bauarbeiter eingesetzt. „Es starben jeden Tag vielleicht 20 Frauen.“

Aber sie selbst überlebte. Nach anderthalb Jahren transportierte man sie im November 1946 im offenen Zug nach Frankfurt / Oder. 16 Jahre war sie, nur noch 32 Kilogramm leicht, verlaust und schwach. Mit einem anderen Mädchen sei sie nach Berlin gekommen, wie weiß sie nicht mehr. Sie suchten Verwandte. Und gerade als sie sich todmüde auf die Straße gesetzt habe und keinen Schritt mehr weitergehen konnte, sei eine rettende Krankenschwester gekommen. „Es hat lange gedauert, bis man begriffen hat, was passiert war.“

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