UteGlaser                                                                                                                                                E-Mail                    
Journalistin

 

26. September 2002

Koelner Stadt-Anzeiger online - www.ksta.de

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"Mutter Kirche" wird 225 Jahre alt

Ihr Baukörper ist einzigartig, ihr Glockenklang erstklassig, und in ganz Bergisch Gladbach und Köln gibt es keine evangelische Kirche, die älter ist.

Bergisch Gladbach - Die Vorväter würden staunen. Und vielleicht wären sie auch etwas neidisch. Denn wer die Gnadenkirche am Sonntag, 29. September, besucht, um ihren 225. Geburtstag zu feiern, der wohnt um die Ecke. Oder er bewältigt weitere Wege mit dem Auto, genau wie Manfred Kock, der als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland die Festpredigt halten wird. Ein unvorstellbarer Luxus für die Ahnen. Denn die Protestanten, die sich 1777 über die Einweihung des ersten evangelischen Gotteshauses in Bergisch Gladbach freuten, mussten meist lange Fußmärsche in Kauf nehmen, um es zu erreichen. Und doch bedeutete sein Bau eine große Verbesserung, denn bisher hatten die Gläubigen zu wichtigen Gottesdiensten bis nach Delling oder Mülheim laufen müssen.

Am 12. Oktober 1777 wurde die evangelische Kirche eingeweiht, und weil es weit und breit keine andere gab, blieb sie fast zwei Jahrhunderte namenlos. Erst als nach dem zweiten Weltkrieg mehr Protestanten nach Bergisch Gladbach strömten, sich Pfarrgemeinden abspalteten und weitere Kirchen gebaut wurden, erhielt sie Anfang der 50er Jahre den Namen Gnadenkirche. Zwecks besserer Unterscheidung vom „Nachwuchs“. Denn neben der „Mutterkirche“ entstanden immer mehr selbstständige Pfarrstellen. „Von ihrem Geist ist letztlich alles ausgegangen, was in heute wenigstens zwei Gemeinden mit insgesamt zwölf Pfarrbezirken geworden ist“, sagt Pfarrer Thomas Werner. Hinzu kommen Evangelische Schule, Krankenhaus, Kindertagesstätten, Seniorenheime und viele andere diakonische Einrichtungen. Die Ahnen wären stolz, die nach langem Ringen am 29. August 1775 vom Landesherrn überhaupt erst das Recht zur freien Religionsausübung erhalten hatten. Nebst Erlaubnis zum Kirchenbau. In Rekordzeit war die Gnadenkirche fertig: Zwei Jahre und sechs Wochen dauerte es nur, bis die Pläne von Architekt Johann Georg Leydel umgesetzt waren.

Er hatte sich im kurkölnischen Raum schon einen Namen gemacht und schuf mit dem Gotteshaus einen in vielfacher Hinsicht ungewöhnlichen und für die damalige Zeit wohl provokanten Bau. Zum einen war es der erste im klassizistischen Stil in der bergischen Region. Zum anderen hatte der Grundriss nicht die übliche Kreuzform, sondern zeige ein regelmäßiges Achteck. Die kunsthistorische Literatur feiert das heute als einen Einzelfall und als architektonisches Glanzstück. Ungewöhnlich war drittens, dass der Altar statt im Osten im Süden stand und dass der Kirchturm nicht an der Portalseite, sondern hinter der Altarwand vorgesehen war.

Für dieses auffällige Bauwerk hatten die 16 reformierten Familien, die damals mit 70 Seelen in Gladbach wohnten, natürlich kein Geld. Das sprengte selbst die Kassen der wohlhabenden Papiermacherfamilien. Und so richteten die Gläubigen die Bitte um eine „liebreiche Beisteuer“ an viele befreundete Gemeinden. Mit Erfolg, wie das „Collectenbuch“ zeigt. Die Gnadenkirche konnte durch Spenden aus Bremen und Kopenhagen, aus der Schweiz und Holland errichtet werden. Bei der Einweihung vor 225 Jahren war sie dennoch nicht vollständig: Es fehlten Glockenturm und Orgel. Zwei kostspielige Anschaffungen, die noch warten mussten und etwa im Zehn-Jahres-Rhythmus später ein- und angebaut wurden. Dass es in der Gnadenkirche gar keine Orgelempore gab, war kein Hindernis. Sie wurde flugs im Kirchturmgeviert eingebaut, so dass die Orgel die Wand über dem Altar schmückte. Der Organist musizierte für die Kirchenbesucher „unsichtbar“ hinter dem Pfeifenwerk im engen Turmstübchen. Lange Freude hatte die Kirchengemeinde an dem alten Stück allerdings nicht: Sie ersetzte die Orgel bereits 1827 durch ein anderes Modell, weil sie unbrauchbar geworden war. Aber auch das neue Instrument war ein altes: Es kam gebraucht aus Vieringhausen bei Remscheid. Sein Zustand war immerhin so gut, dass es die Kirchenerweiterung von 1899 / 1900 und die Restaurierung von 1950 / 51 überdauerte.

Erst 1975 wurde die heutige Orgel eingebaut. Die idyllische Lage der Gnadenkirche hat sich von der Einweihung bis zum Jubiläums-Gemeindefest kaum verändert. Allerdings hat der Bau sein heutiges Gesicht erst durch zwei große Baumaßnahmen erhalten. Die erste führte Baurat Otto March aus Berlin-Charlottenburg durch. Er vergrößerte 1899 / 1900 den Kirchenraum, indem er die Kirche um sechs Meter Richtung Straße verlängerte und so aus dem gleichseitigen ein unregelmäßiges Achteck schuf.

Zugleich erhielt die Gnadenkirche die prägende Säulen-Vorhalle, mehrere bunte Jugendstilfenster gestiftet von den Papiermacherfamilien, das Uhrtürmchen und eine Empore über dem Portal. Die zweite große Baumaßnahme von 1950 / 51 sollte wiederum mehr Platz bringen - erforderlich durch den Zuzug vieler Vertriebener. Im Osten wurde eine Sakristei angebaut, das Turmgeviert wandelte sich zur Altarnische und die Orgel zog von der Altarwand auf die bisherige Chorempore um. Dafür musste das altersschwache Holzkonstrukt allerdings von einer Eisenbeton-Empore ersetzt werden. Über diese Neugestaltung der Kirche wird sich vor allem der Organist gefreut haben. Da er meistens auch Chordirigent war, hatte er bisher während der Gottesdienste mehrfach zwischen Orgelempore und Chorempore wechseln müssen und eine besondere Technik entwickelt, damit dies zügig klappte: Er kletterte an der Orgel über eine Leiter auf den Dachstuhl, lief über den Köpfen der Gemeinde zur anderen Kirchenseite und erschien dort auf der Chorempore über eine andere Leiter von oben - wie der Heilige Geist.

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